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Essays

Tiber in Rom
Der Tiber in Rom (C.Acklin)
Auf Augenhöhe mit dem Tiber. Ein Essay von Claudia Acklin (Originaltext)

Der Rote Pfeil hat mich eben auf das Gleis im Bahnhof Roma Termini ausgespuckt. Ich stehe nach einem wohligen Dösen im Polster des Zugs unvermittelt in einer lärmigen Menschenmenge. Von hinten wird geschubst, vorne ist der Weg versperrt, weil sich jemand nach den Strapazen im Zug gleich eine Zigarette anzünden muss. Langsam saugt mich die Menge vorwärts durch verschiedene Hallen hindurch und schliesslich auf den Busparkplatz. Als ich endlich müde an meiner Station am Rande des Villaggio Olimpico ankomme, geht ein starker Regen nieder, der bald darauf in Hagel übergeht. Es scheint nicht aufhören zu wollen. Uffah, würden Italienerinnen sagen… Mit diesem stürmischen Anfang meiner langen und minutiös geplanten Romreise hatte ich nicht gerechnet. Später irre ich durch die Strassen des Quartiers, in dem Anfang der 60er-Jahre die Olympioniken wohnten, bis ich endlich mein B&B finde. Dort ist noch kein Ausruhen möglich, denn die Gastgeberin quatscht mich voll mit Bestimmungen und mit Erklärungen, weshalb weder der Fernseher noch der Storen funktioniert.

Meine paar Sachen sind schnell ausgepackt. Ich brauche dringend Luft, damit meine Seele mit meinem Körper aufholen kann. Ich spaziere durchs Dorf, durch die Via Argentina oder die Via Turchia oder die Via Olanda in Richtung Tiber. Nahe am Villaggio Olimpico muss der Ponte Milvio liegen, eine der ältesten Brücken von Rom. Und da steht sie auch – geschichtsträchtig auf groben Brückenpfeilern, unten aus antikem Travertin, oben über die Jahrhunderte mehrfach renoviert. Ich lehne mich über das steinerne Geländer und schaue auf den Tiber hinab. Der Fluss fliesst hier überraschend lebendig und verspielt dahin, Möwen sitzen auf kleinen Flussbänken und die Sonne wirft in der Abenddämmerung rötliche Strahlen auf die Wellen. Ich entspanne mich und lasse meinen Blick schweifen. Ich bin voller Vorfreude, als sich plötzlich jemand neben mich stellt, näher als es die Höflichkeit gebietet. Ich sehe zuerst ein paar alte nasse Lederschuhe, dann eine ebenso feuchte Hose, Jacke, Bart und tröpfelnde Haare.

Dieser alte Mann muss wohl in den Regen gekommen und, nicht wie ich, untergestanden sein. Aber ehrlich gesagt, ist alles an ihm so nass, als hätte er eben mit Kleidung geduscht. In der einen Hand hält er etwas Schilf, mit dem er sich wohl gegen den Regen zu schützen versuchte. Soll ich weiter wegrücken, frage ich mich? Ich entscheide mich dagegen, denn eben neu in der Stadt angekommen will ich nicht unhöflich wirken. Er schaut ruhig und voller Stolz über den Tiber und sagt: „Ohne mich würde es diese Stadt nicht geben.“ Überrascht schaue ich ihn nochmals von der Seite an und bemerke eine gewisse Blässe in seinem Gesicht und eine Kühle, die von ihm auszugehen scheint. Wenn das kein Lokalpatriot ist … Er bemerkt meinen skeptischen Gesichtsausdruck, lässt sich jedoch nicht davon beirren und doppelt nach: „Ich habe diese Stadt mit aufgebaut.“

Ich weiss nicht so recht weshalb, aber ich fühle ein starkes Ziehen in der Magengegend. Auch mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Selbst als sich der seltsame alte Mann abwendet und langsam davonzieht, habe ich ein Gefühl, als hätte ich einen Geist gesehen. Entgegen jeglicher Logik beschäftige ich mich mit dem Unsinn den er eben erzählt hat. − Was war denn das? Wer war das? Und was genau wollte er mir mitteilen? – Doch dann bummle ich weiter und entdecke auf dieser historischen Brücke weiter vorne an einer eisernen Kette viele „locchetti d’amore“, Schlösser, die Liebespaare hier hinterlassen haben. Schliesslich ist Roma rückwärts buchstabiert Amor, die Stadt der Liebe. Das behaupten natürlich auch Paris oder London oder Amsterdam. Aber es tut gut, wieder in der Normalität angekommen zu sein. Ich ziele Richtung Pizzeria.

Offenbar hat mich der „barbone“ – der italienische Begriff für Obdachloser –, wie ich ihn am nächsten Morgen nenne, dann doch weiter beschäftigt. Er tauchte in der ersten Nacht im Villaggio Olimpico in meinem Traum auf. Wieder trieft er von Wasser, seine durchtränkten Schuhe scheinen beim Gehen zu gurgeln und seine Haut hat eine marmorne Ausstrahlung. In meinem Traum – oder wohl eher Albtraum – klingt es gehässig, wenn er sagt: „Ohne mich kein Rom.“ So, als wäre er frustriert darüber, dass ich ihm nicht glaube, und als hätte ihn mein mitleidiges Lächeln auf dem Ponte Milvio verletzt.

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Ich bin wegen eines Schreibprojekts nach Rom gekommen. Eine Kurzgeschichte oder ein kurzer Roman soll es werden. So genau weiss ich das noch nicht. Die Geschichte, die eben von einer Liebe, von Amor in Roma handeln soll, existiert bereits, aber es fehlen die Orte, das Licht, die Gerüche und die Geschmäcker dieser Stadt. Früh morgens mache ich mich frohgemut auf den Weg ins Zentrum, ausgerüstet mit Notizblock und Kamera und ohne klares Ziel. Mein Hochgefühl ist von kurzer Dauer, denn dieses Mal bin ich über die Unberechenbarkeit des öffentlichen Verkehrs irritiert. Ich nehme schliesslich entnervt den ersten Bus, der nach langer Wartezeit an der Haltestelle eintrifft. Kurzerhand steige ich einige Stationen später beim Castel Sant’Angelo wieder aus. Wieder Menschenmassen. Gefühlte Tausend (amerikanische) Touristen und Touristinnen drängeln am Fussgängerstreifen. So fühlt sich „overtourism“ an, wie man auf Englisch sagt, Massentourismus. Und dies im März, fast noch im Winter.

Vor dem Kastell sitzt auf dem steinernen Geländer, das das Zentrum der Stadt gegenüber dem Tiber abgrenzt, seelenruhig eine Möve und schaut dem Treiben zu. Sie weiss, dass sie „highly instagrammable“ ist und lässt Fotografen bis auf 30 cm Nähe heran. Auf mich wirken Position und Blick der Möve eher höhnisch, so als würde sie auf den alltäglichen Irrsinn dieser Leute herabblicken. Ich fliehe die steile Treppe zum Tiber hinunter und – bin schockiert. Das künstliche Flussbett. Hohe Mauern, wohl gute zwölf Meter hoch. Auf beiden Seiten des Tibers. Neben dem Fluss hat es gerade noch Platz für einen Spazier- und Fahrradweg und für viel Zivilisationsschutt, der sich im Gebüsch seiner Ufer verfängt. Der Fluss wird hier nicht nur gezähmt und diszipliniert. Mehr noch: Der Tiber wirkt unglücklich und herabgestuft. Aus dem Leben der Römer und Römerinnen verdrängt, ist er eine Nebensache.

Einen Tag später stehe ich während einer meiner Streifzüge auf der Kreuzung der Via Quirinale und Via delle Quattro Fontane, bei der in jeder Ecke ein Brunnen mit Skulptur steht. Mein Blick wird magnetisch von jener Nische angezogen, in der das Abbild eines bärtigen Mannes mit langem Haar zu sehen ist, der mit einem Füllhorn im Arm unter einem Feigenbaum liegt. Von Reben fliessen gleichsam Trauben auf ihn hinab. Im Hintergrund schaut die römische Wölfin aus der Skulptur. Es ist ein majestätisches Bild des Müssiggangs und der Fruchtbarkeit.

Mir stockt der Atem. Mit diesem Bart und langem Haar sieht er wie die jüngere Version meines „barbone“ aus. Doch in dieser Nische liegt ein Gott symbolisch am Ufer des Tibers. Sein Name ist Tiberinus, wie ich lese. Er ist nicht nur jünger als derjenige, den ich am Ponte Milvio und im Traum getroffen habe, er ist auch imposant. Hier tritt mir der Obdachlose nicht nur als eine poetische Allegorie für den Tiber entgegen. Er ist nicht nur gurgelndes Wasser aus nasser Kleidung, sondern ein Repräsentant des Tibers, sozusagen sein Kommunikationschef. Als die Skulptur entstand, wurde Tiberinus wohl noch in Ehren gehalten. Nun kann ich mir vorstellen, dass der alte Mann recht hatte mit seiner Frustration. Vielleicht hat Tiberinus wirklich mitgeholfen, eine Stadt und damit ein Imperium zu gründen.

Für Imperien und Nationen ist Geographie Schicksal. Der Fluss trägt Wasser in eine Stadt, was den Transport von Gütern ermöglicht und damit den schwungvollen Handel mit weit entfernten Gegenden dieser Welt. Ohne den Fluss gibt es weder Macht noch Wohlstand. Er bewässert die Felder der Bauern genauso wie die Gärten begüterter Patrizier, die im alten Rom ihren Reichtum mit Wasserspielen und Nymphäen vorführten. Doch dann erinnere ich mich an das Erlebnis am Castel Sant’Angelo und denke unvermittelt: „Tiberinus, du hast diese Stadt mit aufgebaut, aber was ist aus dir geworden?“ Ich wäre wohl auch beleidigt und verstehe: Tiberinus kämpft um seine Reputation.

Ich entscheide in diesem Moment, mich auf eine Spurensuche zu begeben. Ich will den Einfluss des Flussgottes auf die Gründungsgeschichte Roms verstehen. Dafür lassen sich sicherlich Belege finden. Doch die Behauptung von Tiberinus geht noch weiter: Er sei nicht nur Handlanger und Dienstleister, er ist der Meinung, dass er der Auslöser dieser Entwicklung sei, dass er im vollen Bewusstsein seiner Rolle die Geschichte Roms ins Rollen gebracht habe. Ob ich dazu je Aussagen werde machen können? – Ich weiss nicht, ich bin ja nicht Metaphysikerin von Beruf. Und ich will auch nicht wie eine Verrückte einen triefenden Flussgott im Schlepptau durch die Stadt ziehen. Doch ich will Neues wagen und die Perspektive wechseln. Ich will die Ewige Stadt aus der Sicht des Tibers erkunden. – Und unversehens habe ich das Gefühl, im Fluss und mehr als nur eine Touristin zu sein. Ich werde es fliessen lassen, mich traumwandlerisch fortbewegen, von Erfahrung zu Erlebnis und von dort ab und zu vielleicht auch zu Erkenntnis.

Fortsetzung bzw. gesamter Text

(PDF, 316 KB)

At eye level with the Tiber. An essay by Claudia Acklin (english version)

(PDF, 261 KB)

All’altezza del Tevere. Un saggio di Claudia Acklin (versione in italiano)

(PDF, 227 KB)